Der Mornellregenpfeifer

                                                                                                         ( September 2006)



Muss man eigentlich verrückt sein, wenn man mehr als eineinhalbtausend Kilometer zurücklegt, um eventuell seltene Vögel beobachten zu können? Oder darf man sich noch extravagant , spleenig, kauzig, schrullig oder wie auch immer nennen? Bekannt war mir jedenfalls, dass Mornellregenpfeifer auf ihrem Zug ins Winterquartier im nördlichen Afrika in den Schweizer Bergen eine Zwischenrast einlegen und dort einige Tage verweilen. In einem vogelkundlichen Journal hatte ich gelesen, dass der bekannteste Rastplatz des Mornellregenpfeifers unweit von Chur in Graubünden auf dem Cassonsgrat liegt. Auf den Cassonsgrat kommt man recht leicht von der Talstation im Dorf Flims, indem man die Sesselbahn besteigt und sich auf fast 3000 m Höhe bringen lässt. So weit- so gut. Die Schweiz fand ich recht leicht, auch Chur, Flims, die Talstation mit der Sesselbahn und den Cassonsgrat. In dem ornithologischen Journal stand noch, dass man als Vogelbeobachter und Fotograf auf dem Cassonsgrat nie allein sei. Man könne sich gut an den anderen Vogelfotografen und Vogelbeobachtern orientieren und so die Vögel leicht finden. Auch informiere eine Tafel über den Aufenthaltsort der Vögel. So kam ich also frohen Mutes oben bei bestem Wetter und strahlendem Sonnenschein an. Ich freute mich, die frühen Morgenstunden zum Fotografieren des Mornells nutzen zu können. Murmeltiere pfiffen, Alpendohlen lärmten, aber nirgends gab es ausgeschwärmte Ornithologen! Informationen auf einer Tafel hatte ich auch leider keine gefunden, nicht einmal eine Tafel! Also musste ich die Mornellregenpfeifer wohl mühselig selbst finden. Nach ein paar Stunden Suche hatte ich mich davon überzeugt, dass auch Enziane, Gebirgsschrecken und Landschaften absolut fotografierenswert seien und ich begann mir zu glauben, dass ich gern die weite Fahrt für das herrliche Gebirgspanorama, den schmackhaften Alpenkäse und die hübschen Blumen und alpinen Heuschrecken auf mich genommen hatte. Hausrotschwänzchen und Steinschmätzer, Alpendohlen, Kolkraben und Bergpieper waren zwar kein zufrieden stellender Mornell-Ersatz, zumal sie sich nicht gerade durch Zahmheit und Schrecklosigkeit auszeichneten, aber ich hoffte zudem noch auf Alpenbraunellen und Schneesperlinge und rechnete fest mit einer unverhofften Steinadlerbegegnung. Doch dann tauchten sie tatsächlich auf, die Protagonisten meiner Kindheit! Bengt Bergs Buch „Mein Freund der Regenpfeifer“ hatte ich mehrmals verschlungen und mich berauscht an der Nähe, die er zum brütenden Mornellregenpfeifer erlebt hatte.


Ich legte mich also auf die alpine Matte und hoffte, die Vögel würden mir ihre Zutraulichkeit und Unerschrockenheit im Umgang mit Menschen unter Beweis stellen. Und tatsächlich flog kein Mornell auf und weg oder wich auch nur in die entgegengesetzte Richtung aus! 6 Vögel konnte ich entdecken, Alt- und Jungvögel, gut kenntlich am unterschiedlichen Gefieder. In Mitteleuropa sind Mornellregenpfeifer als Brutvogel so gut wie ausgestorben, kaum nennenswerte 4-9 Brutpaare gibt es noch in Polen und Tschechien (0-2 Brutpaare), in der Schweiz (0-1 Brutpaar) und in Österreich (4-6 Brutpaare). In den Tundren Skandinaviens bis Ostsibiriens dagegen finden die Vögel noch vereinzelt ihr Auskommen. 11.000-42.000 Brutpaare beträgt der Gesamtbestand Europas, Russland (2-14 Tausend), Finnland (500-2000), Norwegen (5-15.000) und Schweden (3.000-10.000) beherbergen die größten Populationen. Auch in Großbritannien leben noch 510-760 Brutpaare. Im Spätsommer ziehen die Vögel dann in ihr Winterquartier im Trockengürtel Nordafrikas und Vorderasiens. Das relativ kleine Winterareal reicht von Marokko bis zum Westiran. Mornellregenpfeifer, die in Ostsibirien brüten, müssen immerhin bis zu 10.000 km Weglänge hinter sich bringen, bevor sie im südlichen Quartier eintreffen.  Klar, dass bei einer solch imposanten Flugstrecke Zwischenstopps wie hier in Graubünden eingelegt werden. Hochinteressant sind die seltenen Limikolen auch aus anderen Gründen: Nicht nur, dass sie dem Menschen gegenüber kaum Scheu zeigen (was ich aber nur von meinem ersten Tag auf dem Cassonsgrat bestätigen kann, denn am zweiten Tag flogen die nun 7 von mir gefundenen Mornells bei Annäherung gleich auf), sondern die Geschlechter haben auch einen Rollentausch vorgenommen. Zu Beginn der Balz sind die Weibchen aktiver als die Männchen und versuchen diese auf sich aufmerksam zu machen, sie sind auch etwas prächtiger gefärbt und überlassen es den Männchen, die Eier auszubrüten. Eine bei Vögeln seltene Rollenverteilung! Zurück zur Ausgangsfrage: Komplett verrückt muss man sicher nicht sein, wenn man so weit fährt, um diesen schönen, zutraulichen Vögeln zu begegnen - und ein bisschen natur- und vogelverrückt hat noch nie geschadet!